2025-01-03
Schulbesuch im Naturkundemuseum der Akademie der Ewigen Magie – 1. Kapitel
1
„Gibt es noch irgendwelche letzten Fragen zum Beantworten?“, bot Herr Müllziege den drei Studenten an, die am Tisch im Pausenraum der Museumangestellten saßen und noch ein letztes Mal ihre Notizen durchgingen. Keiner der drei jungen Leute antwortete sofort, doch ihre angespannten Mienen deuteten an, dass sie sein Angebot zur Hilfe ernst nahmen, sodass der stehende Satyr sich geduldete, wobei er sich durch seinen ergrauten Ziegenbart strich. Welcher zwar zu seinem Namen, aber nicht zu seinen Hörnern passte, denn diese waren rund und gewunden, wie die eines Widders, und nicht gebogen und stechend wie die eines Ziegenbockes.
„Da wäre etwas, was mir in der letzten Nacht den Schlaf geraubt hatte“, ergriff endlich die junge Frau Haselbusch das Wort. Sie spielte nervös mit einer ihrer goldenen Locken, während sie ihre Bedenken darlegte: „Was ist, wenn eines der Kinder wissen will, wie das, was wir ihnen zeigen und erklären wollen, mit den Mythen zusammenpasst?“ Sie errötete verlegen: „Meine kleinen Brüder fragen mich so oft über Dinosaurier, Pyrgocephalos und Urmenschen. Und ich versuche oft, nahe bei der Wahrheit zu bleiben, doch ab und zu flunkere ich ein bisschen, um ihnen nicht den Zauber alter Mythen zu nehmen.“ „Damit schadest du ihnen aber nur langfristig, Brigit“, erwiderte der junge Herr Berger schroff. „Früher oder später werden sie verstehen müssen, dass die Evidenz schlichtweg eine Schöpfung durch die Götter nicht unterstützt.“ Frau Haselbusch zuckte zusammen, bevor sie ihn mit klimpernden Augen eine sanfte, fast schon unterwürfige Erwiderung gab: „Ich stimme dir ja auch in diesem Punkt zu, Petrus. Doch man kann es den Kindern auf eine nettere Art und Weise nahebringen, als es ihnen einfach ins Gesicht zu klatschen.“ „Wir sind aber hier als Studenten in einem Museum, um den Kindern Paläontologie nahezubringen“, erwiderte Herr Berger, wobei seine auf der hölzernen Tischplatte liegende Hand sich zur Faust ballte. „Wenn die Kinder Märchen haben wollen, dann sollen sie die Zeit von Novizen in Tempeln verschwenden und nicht unsere.“
2
Herr Müllzieges unguter, ihn schon die ganze Zeit plagende Verdacht schien bestätigt, so wie der Tonfall Herr Bergers klang: Dieser junge Mann war überhaupt nicht daran interessiert, Grundschulkindern etwas beizubringen. Der Dozent mutmaßte schon während der ganzen Betreuung, dass Herr Berger sich nur allein wegen Frau Haselbusch „freiwillig“ für dieses Projekt gemeldet hatte. Mit welcher er, zumindest laut dem, was der alte Satyr als Dozent so aufschnappte, ein Paar bildete. Seinen Augen fiel das aber schwer zu glauben, wenn er sah, wie grundverschieden die beiden in ihrem Wesen waren und wie sie miteinander umgingen. Niemand konnte ihn überzeugen, dass dies eine glückliche Beziehung darstellte. Doch als Dozent musste er sich aus dem Privaten seiner Studenten heraushalten und wollte deshalb den Gesprächsfluss zurück auf die eigentliche Frage lenken. Doch der Umstand, dass diese Zurückhaltung nicht für die Studenten selbst galt, wurde sogleich von Herrn Goldschmitt – bei dem ungewiss war, ob sein Vorfahre wahrhaftig ein Goldschmied oder eher, wie sein Nachfahre, ein Katermann mit dichtem, goldbraunem Fell gewesen war – ausgenutzt, der an Herrn Berger gerichtet murrte: „Ich hoffe sehr, du hast nie vor, Kindern zu haben. So sehr wie du darauf versessen bist, sie wie kleine Erwachsene zu behandeln und ihnen jegliche Kindheit zu verwehren.“ Nun musste aber Herr Müllziege als Dozent das Wort bestimmt ergreifen, denn dies war mehr als nur eine Kritik unter Kommilitonen. Denn es war wesentlich leichter zu glauben, dass dieser junge Katermann in Frau Haselbusch verliebt war und dementsprechend eine starke Eifersucht gegenüber Herrn Berger hegte. Damit stellten die letzten Worte einen Angriff auf die Männlichkeit des letzteren dar und wurde auch so verstanden, so wie die sich in Zorn erhärtenden Züge verrieten. Es musste sofort entschärft werden, denn ein in ein Liebesdrama abzurutschen drohender Streit so kurz vor den Führungen war das allerletzte, was er als Dozent brauchte.
3
Doch es sollte nicht der alte Satyr sein, der die erhitzte Luft im Pausenraum abmilderte. Denn sehr zu seiner Überraschung ergriff Frau Haselbusch den Arm des neben ihr sitzenden Herrn Bergers und meinte: „Hör nicht auf ihn, Petrus. Ich weiß, dass du eines Tages ein wunderbarer Vater sein wirst.“ Wie ein Gletscher, der schlagartig schmolz, verloren Herr Bergers Züge an Härte. Er errötete sogar ein bisschen und stammelte leicht: „Das bezweifele ich auch nicht, Brigit. Doch das ist für den Moment gar nicht relevant.“ Die Blonde giggelte, sich kurz an die Schulter ihres Geliebten anlehnend, bevor sie wieder losließ. Herr Müllziege, dem es nun etwas leichter fiel zu glauben, dass da zumindest etwas Glück in dieser Beziehung funkelte, nutzte den Moment, um endlich seiner Aufgabe als Dozent nachzukommen: „Bezüglich Ihrer Frage, Frau Haselbusch: Ich verstehe Ihre Bedenken vollkommen. Und auch wenn Herr Berger durchaus recht hat, dass wir hier in einem Museum uns auf Wissenschaft konzentrieren sollten, so müssen Sie nicht so … unnachgiebig sein wie Herr Berger. Welche Götter man auf welche Art und Weise verehrt sowie man mit den diese umgebenden Mythen umgeht, ist persönliche Glaubenssache. Deshalb ist das Wichtige, dass Sie nicht nur solche Erklärungen klar von den wissenschaftlichen Theorien abgrenzen, sondern auch den Kindern klar vermitteln, dass sie, anders als beim Wissen, eine Wahl haben, was sie glauben wollen.“ „Aber bei allem Respekt, solch ein Wischwasch wird doch Wissen und Glauben erst überhaupt bei den Kindern vermischen“, beharrte Herr Berger weiterhin, worauf der alte Satyr sich nachdenklich durch seinen Bart strich, seine nächsten Worte mit Bedacht wählend, denn der junge Mann hatte durchaus Recht, aber auch Unrecht.
4
Grundsätzlich konnte der alte Dozent sehr bei seinen drei Studenten das Hadern mit dem Widerspruch zwischen Evolution und Mythen mitfühlen. Er selbst war ein kleiner Junge gewesen, als die Evolutionstheorie zum ersten Mal in dem Buch „Über die Entstehung der Arten“ von dieser aphrikischen Naturforscherin – deren exotischen Namen er selbst nach all diesen Jahrzehnten sich noch immer nicht merken konnte – der Öffentlichkeit präsentierte. Wie man so hörte, soll diese kluge Frau auf ihrem Heimatkontinent verfolgt und mit dem Tod bedroht worden sein, sodass sie mitsamt ihrer Theorie nach Mora, in die Allianz floh. Welche als die zivilisiertere Gemeinschaft zwar keine Hexenjagd veranstaltete, doch wurden auch ihre religiösen Gefühle durch das Infragestellen der Schöpfungsmythen, was die Evolutionstheorie zwangsläufig tat, kräftig durchgeschüttelt. Noch gut erinnerte er sich, wie viele Erwachsene in seiner Familie, sonst so rationale, erwachte Leute, plötzlich so wissenschaftsfeindlich wurden, darauf pochend, dass die alten Mythen wahr waren und diese neue Theorie ein Hirngespenst darstellte. Sich wie Christen verhielten, denen man sonst allein solche religiöse Engstirnigkeit zuschrieb.
5
Es stellte somit ein Thema dar, dass nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene sehr beschäftigte, etwas, was Herr Müllziege auch heutzutage regelmäßig in seinen Seminaren miterlebte. Stets musste er als die neutrale Kraft im Raum agieren, damit eine leicht religiös angehauchte Frage eines Studenten nicht zu einem kleinen Religionskrieg führte, der vom Eigentlichen ablenkte: das Lernen über die Entschlüsselung der Urgeschichte. „Es ist zugegebenermaßen ein fauler Kompromiss, ein Ghulhandel, Herr Berger“, richtete der alte Satyr das Wort an seinen Studenten. „Ich werde dies Ihnen auch nicht aufzwingen. Sie können, sollten die Kinder solche Fragen stellen, frei entscheiden, wie Sie darauf eingehen. Nur bitte keine Predigt.“ „Natürlich, das versteht sich“, nickte Herr Berger, worauf Herr Goldschmitt auflachte, höhnisch mit seinen spitzen Ohren wackelnd: „Als könntest du das, oh du erwachter Atheist.“ Herr Müllziege rollte mit den Augen, froh darüber, dass diese beiden Streithähne in verschiedenen Hallen sein würden, und fragte Frau Haselbusch: „Beantwortet dies Ihre Frage zufriedenstellend?“ „Ich denke schon“, lächelte diese. „Letztendlich haben Sie mir ja nur gesagt, dass etwas Flunkern in dem Fall in Ordnung geht.“ Dies ließ den alten Satyr schmunzeln: „Das habe ich. Machen Sie drei sich aber nicht zu viele Sorgen. Es sollen nur kleine, zwangslose Führungen werden, eine Übung für Sie, ein Erlebnis für die Kinder. Und ich werde mich im Hintergrund aufhalten, einspringen, sollte Sie eine helfende Zunge brauchen.“
Der nächste Teil der Geschichte wird in zwei Wochen, am 17. Januar 2025, veröffentlicht.
Admin - 13:25:41 @ Naturkunde, Erzählung | Kommentar hinzufügen